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DGPPN Kongress 2004
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde
ICC Berlin, 24. bis 27. November 2004
Keine "Erfindung":
Unter- und Fehlversorgung psychisch Kranker in Deutschland
Von Prof. Wolfgang Maier, Bonn
Psychische Erkrankungen sind sehr häufig: Zusammen mit Herz-Kreislauf-Krankheiten
stehen sie an der Spitze gesundheitsbedingter Berufs- und Arbeitsunfähigkeit
in der Bundesrepublik. Psychische Erkrankungen verursachen enormes subjektives
Leid, familiäre und partnerschaftliche Zerrüttungen und hohe
Gesundheitskosten. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) weist psychische
Erkrankungen als eine führende Ursache für Verlust an Lebensqualität
weltweit aus und zwar mit deutlich steigender Tendenz. In Deutschland
herrscht eine erschreckende Unterversorgung psychisch Kranker international
steht nur noch die Ukraine schlechter da! Die Behauptung in populärwissenschaftlichen
Publikationen hingegen, viele seelische Krankheiten seien "erfunden",
verstärkt nur noch die Ausgrenzung der Betroffenen.
Ein aktueller Bericht der WHO(1) zur Häufigkeit von und zur Beeinträchtigung
durch psychische Krankheiten sowie zum Behandlungsbedarf kommt für
Deutschland zu folgender Feststellung: Mehr als neun Prozent der Bevölkerung
in Deutschland leidet aktuell an einer psychischen Erkrankung,
die Hälfte davon in deutlicher oder schwerer Ausprägung. Diese
ausgeprägten Schweregrade stehen in engem Zusammenhang mit der Anzahl
von Tagen mit Arbeits- und Funktionsunfähigkeit. Hinzu kommt, dass
es bei den meisten länger dauernden psychischen Erkrankungen wiederkehrende
Krankheitsepisoden gibt. Insgesamt liegt das Vorkommen in der Gesamtbevölkerung
Ð Ÿber die Lebenszeit gesehen Ð deutlich höher, nŠmlich bei etwa
25 Prozent. Jeder Vierte leidet also irgendwann im Leben an seelischen
Krankheiten.Und rund ein Viertel der Betroffenen leidet unter chronischen
psychischen Störungen.
Die Diagnose einer psychischen Störung erfolgt nicht einfach durch
eine willkürliche Definitionen von Ärzten und Therapeuten. Unbedingte
Voraussetzung sind gemäß der internationalen Krankheits-Klassifikationssysteme
(ICD-10 und DSM IV TR) neben spezifischen Beschwerden und Symptomen eine
deutliche Verringerung beruflicher Leistungsfähigkeit oder andere
psychosoziale Beeinträchtigung. Jede so diagnostizierte Erkrankung
erfordert also eine adäquate Behandlung.
Der World Mental Health Survey der WHO zeigt, dass die aktuelle Situation
in Deutschland von diesem Erfordernis weit entfernt ist. Selbst bei schweren
psychischen Erkrankungen erhält weniger als die Hälfte der Betroffenen
eine therapeutische Hilfe; bei anderen aktuell Betroffenen liegt die Behandlungsrate
sogar nur bei maximal 30 Prozent. Nirgendwo in Europa (von der Ukraine
abgesehen) ist die Behandlungsrate so gering. Es besteht also eine Unterversorgung
("unmet need") für psychische Erkrankungen. Und dies liegt nicht
etwa daran, dass es bei uns "einfach zu viele" psychisch Kranke gäbe:
Die Erkrankungshäufigkeiten in Deutschland sind eher geringer als
in anderen Ländern.
In Deutschland wird diskutiert (2), dass Menschen mit psychischen Problemen
oder auffälligen Verhaltensweisen für psychisch krank erklärt
werden, um so interessierten Kreisen sprich Pharmazeutische Industrie
oder Therapeuten Behandlungsfälle zu schaffen.
Psychische Krankheit im Sinne der WHO setzt neben subjektiven Leiden eine
krankheitsbedingte erhebliche Beeinträchtigung der Alltagsfunktion
und/oder der Arbeitsfähigkeit voraus.
Schüchternheit, vermehrte Ängstlichkeit oder das oft zitierte
Sissi-Syndrom erfüllen als Syndromdiagnosen für sich
genommen diese Kriterien nicht. Nur ein Teil der davon Betroffenen
wird die Definitions-Kriterien der Sozialphobie, der Panikstörung
oder der depressiven Episode erfüllen. Bei solchen Erkrankungen besteht,
wie gesagt, in Deutschland eine eklatante Unterversorgung.
Die Diskussion um "erfundene Krankheiten" verschlimmert die Nöte
der Betroffenen und erhöht ihre Scham wegen ihrer psychischen Beeinträchtigung.
Die Diskussion verhindert damit frühzeitige störungsspezifische
Hilfen und erschwert den Aufbau und den Zugang zu therapeutischen Angeboten.
Literatur:
(1) World Mental Health Survey Consortium: Prevalence, Severity, and Unmet
Need for Treatment of Mental Disorders in the World Health Organization
World Mental Health Surveys, Journal of the American Association 2004,
299:2581-2590
( 2) Blech, Jörg.: "Die Krankheitserfinder. Wie wir zu Patienten
gemacht werden"
6. Auflage, S. Fischer, Frankfurt 2004
Ansprechpartner:
Prof. Dr. med. Wolfgang Maier
Präsident des DGPPN-Kongresses 2004
Universitätsklinikum Bonn
Psychiatrie und Psychotherapie
Sigmund-Freud-Straße 25
53105 Bonn
Tel.: 0228/287-5722; Fax: -6097
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