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DGPPN Kongress 2004
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde
ICC Berlin, 24. bis 27. November 2004
An der Grenze zum Ver-rückt-sein?
Psychotherapie und Neurobiologie der "Borderline-Störungen":
Fortschritte in Diagnostik und Therapie
Pressetext von Prof. Martin Bohus, Mannheim
Borderline-Störungen (borderline: "Grenzlinie") wurden ursprünglich
so bezeichnet, weil man davon ausging, dass sie Menschen an der "Grenze
zwischen Schizophrenie und Normalität" betreffen. Diese entwicklungstheoretische
Annahme verhinderte lange eine wissenschaftliche Annäherung an das
schwerwiegende Krankheitsbild. Borderline-Störungen galten als kaum
zu behandelnde chronische Erkrankung. Erfreulicherweise haben sich sowohl
das Wissen über die Hintergründe der Krankheit als auch die
Möglichkeiten ihrer Behandlung in den letzten sieben Jahren erheblich
verbessert. Problematisch ist allerdings noch die ambulante Versorgung
durch kompetent ausgebildete Therapeuten. Nicht nur die Betroffenen, auch
ihre Angehörigen sind erheblich belastet, denn die Patienten sind
trotz normaler Intelligenz in ihren schulischen und beruflichen Entwicklungen
schwer behindert.
An einer Borderline-Störungen leiden immerhin über 1,5 Prozent
der Bevölkerung, also mehr Menschen als an schizophrenen Erkrankungen.
Der Großteil der Betroffenen ist weiblich. Eine Störung beginnt
meist schon im Jugendalter, findet ihren Höhepunkt im jungen Erwachsenen-Alter
und flaut dann gegen 40 ab nach 30 Jahren intensivem Leid,
Selbstverletzungen, Hochrisikoverhalten, Drogenkonsum, schweren Depressionen
oder Suizidversuchen, die bei über sieben Prozent der Patienten vollendet
werden. Die Erkrankung stellt auch ein großes Problem für die
Versorgungssysteme dar: Jährlich werden allein für die stationäre
Behandlung der Borderline-Störungen in Deutschland etwa drei Milliarden
Euro ausgegeben, rund 15 Prozent des Gesamtbudgets für psychische Störungen.
Das Wissen über das Erkrankungsbild ist in den letzten Jahren erheblich
gewachsen.
So kann als gesichert gelten, dass ein Zusammenspiel zwischen genetischen
Faktoren und frühen traumatischen Erfahrungen für die Entstehung
der Borderline-Störung verantwortlich sind. Über die Hälfte
der Betroffenen berichtet von schwerwiegendem Missbrauch, über 60
Prozent von emotionaler Vernachlässigung, fast alle aber über
ein soziales Umfeld, in welchem sie sich in hohem Maße als fremd,
gefährdet und gedemütigt erlebt haben. Ganz neue Daten weisen
zudem darauf hin, dass sich Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen
bei Mädchen im Kindes- und Jugendalter zur Borderline-Störung
entwickeln können.
Moderne wissenschaftliche Untersuchungen und Diagnostikverfahren haben
ergeben, dass die Regulation von Emotionen gestört ist und
dies im Zentrum der Erkrankung steht. Die Betroffenen reagieren überempfindlich
auf unangenehme Informationen, entwickeln heftige und lang anhaltende
Gefühle, die zeitweise als extreme Anspannung erlebt werden. Auffällig
ist bei dieser Patientengruppe zudem eine ausgeprägte Störung
der Körperwahrnehmung. Die Betroffenen fühlen sich fremd in
ihrem eigenen Körper. Vor allem Schmerz spüren viele Betroffene
kaum oder nur sehr wenig. Selbstverletzungen, Drogeneinnahmen und hoch
riskante Aktivitäten lindern die Anspannung vorübergehend, werden
jedoch rasch zu suchtartigem Problemverhalten. Nicht wenige Patientinnen
erleben das Schneiden mit Rasierklingen als wohltuend, manchmal konzentrationsfördernd
und berauschend.
In den letzten Jahren zeigten Hirnuntersuchungen neuroanatomische Veränderungen
im Wechselspiel zwischen den zentralen Kerngebieten der Gefühlsregulation:
der Amygdala, dem Vorhirn und dem Hippocampus. Aus Versuchen weiß
man, dass Tiere mit frühen Verlust- oder Trauma-Erlebnissen ähnliche
Hirnveränderungen haben. Dies ist ein Beispiel dafür, wie das
Gehirn plastisch auf unbewältigbare Stress-Situationen reagiert.
So ist auch nachvollziehbar, dass sich neurobiologischen Auffälligkeiten
nach erfolgreicher Psychotherapie zu bessern scheinen.
Den Durchbruch in der Therapie
der Borderline-Störung schaffte die von M. Linehan (Seattle)
entwickelte Dialektisch Behaviorale Therapie (DBT) seit Mitte der neunziger
Jahre. Die DBT fasst ein weites Spektrum therapeutischer Methoden aus
dem Feld der Verhaltenstherapie, der Hypnotherapie, der Körpertherapie
und des ZEN zusammen. Eng angelehnt an die Ergebnisse der neurobiologischen
Forschung werden in Einzel- und Gruppentherapie spezifische Fertigkeiten
zur Stressregulation, Emotionsmodulation und Verbesserung der Selbstakzeptanz
geübt. Die DBT hat sogar schon nach drei Monaten sehr hohe Therapie-Effekte.
Die Wirksamkeit konnte in sieben Studien nachgewiesen werden. Auch in
Deutschland wird die DBT mittlerweile an den meisten größeren,
universitären Zentren im Sinne von integrierten Versorgungsmodellen
angeboten.
Problematisch ist derzeit allerdings die ambulante Versorgung durch kompetent
ausgebildete Therapeuten. Da die Finanzierung der Langzeitbehandlung im
Rahmen der Richtlinientherapie nur teilweise gesichert ist, besteht oft
wenig Motivation, Borderline-Patienten ambulant zu behandeln. So kommt
es immer wieder zu langwierigen stationären Aufenthalten von durchschnittlich
68 Tagen pro Patientin pro Jahr in psychiatrischen Kliniken.
Der Deutsche Dachverband DBT hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Versorgung
im deutschsprachigen Raum zu verbessern. Er bietet qualifizierte Fortbildung
und Qualitätsmanagement an und koordiniert in enger Absprache mit
Wissenschaftlergruppen in den USA die Forschungsbemühungen in Deutschland.
Ansprechpartner:
Prof. Dr. Martin Bohus
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit
J5 Mannheim
68159 Mannheim
Tel.: 0621/1703-4001; Fax: -4005
E-Mail
Pressekontakt:
MWM-Vermittlung
Kirchweg 3 B, 14129 Berlin
Tel.: 030/803 96-86; Fax: -87
E-Mail
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