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DGPPN Kongress 2004
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde
ICC Berlin, 24. bis 27. November 2004

Informiert oder überfordert?
Die Bedeutung der "Patientenkompetenz"
Von Prof. Thomas Becker, Ulm

In der Medizin insgesamt hat sich die Rolle des Patienten geändert. Auch für die Psychiatrie gilt: Für alle Seiten ist es wünschenswert, dass Patienten nicht mehr nur betreut oder gar bevormundet werden und eine bloß passive Rolle spielen – und dass Ärzte weniger "Patriarchen" als Partner sind. Zum mündigen Patienten gehören zunächst Wissen um seine Krankheit und deren Behandlungsmöglichkeiten. "Patientenkompetenz" bedeutet aber mehr: die Möglichkeit, mit der Erkrankung angemessen umzugehen und Selbstheilungskräfte zu aktivieren, die gleichberechtigte Entscheidung gemeinsam mit dem Arzt über die individuell bestmögliche Therapie sowie auch die Vertretung der Interessen von Patientengruppen in politischen Entscheidungsprozessen. Diese umfassende Unterstützung der Patientenkompetenz wird Empowerment genannt. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass Patientenkompetenz gerade bei seelischen Erkrankungen – etwa bei zeitweilig eingeschränkter Urteilsfähigkeit – auch ihre Grenzen haben kann.

Patientenkompetenz ist auf unterschiedlichen Ebenen wirksam.

1. Zum einen geht es um die unmittelbare Beziehung zwischen Professionellen und Patienten. Hier findet ein gleichberechtigter Aushandlungsprozess zwischen Patient und Arzt statt, bei dem der Patient mit fachlicher Unterstützung entscheidet, welche Behandlung erfolgen soll. Dabei sollen Zielvorstellungen vom Patienten selbst formuliert und aktiv angestrebt werden. Patienten werden so zu mündigen Partnern. Empowerment bedeutet die Befähigung zu eigenverantwortlichem und selbst bestimmtem Handeln.
In anderen medizinischen Disziplinen erscheint dies weitestgehend problemlos, aber in der psychiatrischen Behandlung wirft es Fragen auf. Es ist plausibel, dass dem Anspruch auf eigenverantwortliche Entscheidung möglicherweise aufgrund einer zeitweilig eingeschränkten Urteilsfähigkeit der Patienten und Patientinnen Grenzen gesetzt sein können. Bis zu welchem Punkt können psychisch Kranke selbstverantwortlich handeln, ohne sich selbst oder andere zu gefährden? Auch Zwangsmaßnahmen sind ein Teil der psychiatrischen Realität. Einen Weg aus dem Dilemma zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge bieten hier "Behandlungsverträge" oder ein "psychiatrisches Testament": Darin wird verbindlich geregelt, wie im Falle einer akuten Krisensituation zu verfahren ist (zum Beispiel Art der Neuroleptika-Gabe oder Reihenfolge der Zwangsmaßnahmen). Es unterliegt aber weiterhin der ärztlichen Fürsorgepflicht, in der Krisensituation über seine Patienten zu entscheiden und gegebenenfalls Maßnahmen zum Ausschluss einer Eigen- oder Fremdgefährdung einzuleiten.

2. Patientenkompetenz bezieht sich auch auf die Fähigkeit, die zur Verfügung stehenden Leistungen im Versorgungssystem zu beurteilen und gegebenenfalls auf eine verbesserte Gestaltung hin zu wirken. Hier hat die nutzerorientierte psychiatrische Versorgungsforschung in den letzten Jahren Beachtliches geleistet. Zu den wichtigsten Voraussetzungen für Behandlungserfolge gehört, dass der Patient die Therapie-Maßnahmen- und Regeln einhält. Diese "Behandlungstreue" (Compliance) kann aber heute ebenfalls keine "Einbahnstraße" mehr sein. Die Compliance ist um so größer, je selbstbestimmter und motivierter der Patient ist. So kann die Einbindung des "Kunden" auch in den Forschungsprozess einschneidende Effekte haben.
Zwei Beispiele:
In einer psychiatrischen Klinik in Großbritannien sollten die Effekte eines auf größtmögliche Compliance ausgerichteten Therapiekonzeptes untersucht werden. Die Studienteilnehmer kritisierten allerdings, dass Medikamenteneinnahme das wesentliche Zielkriterium einer erfolgreichen "Compliance-Therapie" war. Der darauf folgende Diskussionsprozess führte zu einer veränderten Studienkonzeption: "Compliance-Therapie" war nun auf die Befähigung der Teilnehmenden gerichtet, die Vor- und Nachteile der Medikamenteneinnahme gegeneinander abwägen und so selbst darüber entscheiden zu können.
In einer weiteren Studie (ebenfalls in Großbritannien) zur Beurteilung von stationären und ambulanten psychiatrischen Einrichtungen stand nicht nur die Perspektive der "Nutzenden" im Vordergrund, vielmehr waren Betroffene sowohl an der Entwicklung als auch an der Durchführung der Studie beteiligt. Es wurden 500 Patienten von 61 geschulten Interviewern befragt, die eigene Psychiatrieerfahrungen hatten. Im Vergleich zu Untersuchungen mit traditionellem Studiendesign (professionelle Interviewer ohne Psychiatrieerfahrung) sprachen die Befragten sehr viel offener über ihre Lebenssituation in der Gemeinde und über ihre Erfahrungen mit dem professionellen System. Die Studie konnte damit auf einen erlebten Mangel hinweisen, der in anderen Studien kaum thematisiert wurde.

3. Patientenkompetenz ist schließlich auch dort gefragt, wo es um die Vertretung der Interessen bestimmter Patientengruppen in politischen Entscheidungsprozessen geht. Für den Bereich der Psychiatrie stellt der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener (BPE) e.V. die wohl bedeutendste Organisation dar. Zu den zentralen Aufgaben des BPE zählt die Einflussnahme auf Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Sozialversicherungen mit dem Ziel der Verbesserung von Rahmenbedingungen für die familiäre, soziale und berufliche Prävention und Rehabilitation. Vor dem Hintergrund, dass von einer psychischen Erkrankung häufig das gesamte Familiensystem betroffen ist, bedeutet Empowerment hier aber auch, dass die Perspektive der Angehörigen psychisch Kranker stärker als bisher in Entscheidungsprozessen berücksichtigt wird. So setzt sich der Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker einerseits für die Interessen der Angehörigen psychisch Kranker ein. Andererseits werden durch ihn aber auch Interessen der psychisch kranken Personen auf ein weitgehend selbstbestimmtes Leben auf der politischen, gesetzlichen und öffentlichen Ebene unterstützt.

Trotz des in Einzelfällen sicherlich auch weiterhin bestehenden Dilemmas zwischen Fürsorge und Selbstbestimmung ist die Erhöhung von Patientenkompetenz auch für die psychiatrische Disziplin unbedingt wünschenswert. Sie darf aber nicht zu einer Überforderung von Menschen mit psychischen Erkrankungen führen. Deshalb müssen Patienten auch jederzeit entscheiden können, ob und wie viel Verantwortung sie übernehmen möchten. Dies beinhaltet dann auch, den Wunsch eines Patienten nach Verantwortungsübernahme durch den Behandelnden zu respektieren. Durch die beim Patienten liegende Entscheidung für eine (Zurück)-Gabe von Verantwortung an den Behandelnden unterscheidet sich diese "fürsorgliche" Arzt-Patienten-Beziehungsform allerdings grundlegend von der traditionellen "Bevormundung" durch den Psychiater.
Ansprechpartner:
Prof. Dr. med. Thomas Becker
Bezirkskrankenhaus Günzburg
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
(Abteilung Psychiatrie II der Universität Ulm)
Ludwig-Heilmeyer-Straße 12
89312 Günzburg
Tel.: 08221/96-2001; Fax: -2400
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Pressekontakt:
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Kirchweg 3 B, 14129 Berlin
Tel.: 030/803 96-86; Fax: -87
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